Freiheit und Unabhängigkeit


Interview mit Atlantean Kodex
Epic Metal aus Deutschland - Vilseck
Kompromisslose Musik kommt von kompromisslosen Musikern? Etwas Wahrheit steckt mit Sicherheit in dieser These, man sollte nur nicht den Fehler begehen, Kompromisslosigkeit in der Musik mit Brutalität gleichzusetzen oder gar darauf zu schließen, dass ein kompromissloser Musiker ein ungehobelter Rüpel ist. Als Beleg sowohl der These wie des Zusatzes dürfen ohne Zweifel ATLANTEAN KODEX gelten, die mit modernen Konventionen wenig gemein haben und die auch aus diesem Grund eine eingeschworene Anhängerschar hinter sich wissen, die das nicht nur von mir zum Album des Jahres erklärte “The White Goddess“ auf einen überraschenden 65. Platz in den deutschen Albumcharts gehievt haben. Gitarrist Manuel Trummer stellt sich den Fragen mit gesundem Humor, dem notwendigen Ernst und, wie nach dieser Einleitung zu erwarten ist, ohne mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten, während er auf dem Heimweg von seiner Hauptbeschäftigung an der Uni Regensburg in das ein oder anderen oberpfälzische Funkloch gerät.

Du bist auf dem Heimweg von deiner regulären Arbeit, dabei seid ihr doch jetzt fast schon Stars mit der Chartplatzierung…

Ja, aber hallo! Wird Zeit, dass wir ein paar VIP-Pakete an den Start bringen. Nee Quatsch, das kam natürlich völlig aus heiterem Himmel und ist nach wie vor total bizarr, dass wir mit dieser Musik überhaupt in den Charts auftauchen, so zwischen DJ Antoine und Joe Cocker irgendwo. Völlig abgefahren.

Und das ohne viele Konzerte.

Ja, das kommt auch noch dazu. Ich glaube, die einzige Chance, wie man heute überhaupt mal in die Charts kommt mit Plattenverkäufen, ist entweder, dass man sehr stark medienpräsent ist, in den elektronischen Medien, oder am laufenden Band tourt, wie es beispielsweise ORCHID gemacht haben oder IN SOLITUDE es machen. Das sind, meine ich, die einzigen Möglichkeiten, wie man heute mit der Musik noch in die Charts kommt. Dass wir es ohne Touren geschafft haben, ist schon ein kleines Wunder, und ich hab nach wie vor keine Ahnung, wie das passiert ist.

Ich meine, es zählen nicht die reinen Verkaufszahlen sondern die Umsatzzahlen, von daher wird es auch geholfen haben, wenn zum Beispiel die LP teuer genug war.

Die andere Frage ist, wer tatsächlich bei den Charts-notierten Händlern kauft. Ich denke, dass ein Großteil der Leute, die heute Vinyl kaufen, entweder bei Ván Records oder bei Cruz del Sur bestellen, und die sind wiederum nicht bei Media Control notiert. Insofern glaube ich, dass die Vinyledition da gar nicht so sehr mit reinspielt und es tatsächlich die Menge der verkauften Alben gemacht hat.

Da ist es ja ein glücklicher Zufall, dass für die nächste Zeit fast mehr Konzerte angekündigt sind, als bisher insgesamt überhaupt von euch stattgefunden haben.

Ja, das hat den ganz einfachen Grund, dass unser Sänger Markus (Becker) jetzt wieder fest in Deutschland wohnt. Das große Problem in den vergangenen Jahren war ja, dass er in den USA wohnte, wir immer die Flüge für ihn bezahlen mussten und wir deshalb nur ganz ganz ausgewählte Shows spielen konnte. Jetzt wohnt er wieder fest in unserer Gegend und deshalb haben wir jetzt ein paar mehr Konzerte geplant in nächster Zeit.

Aber natürlich noch so im Rahmen, dass der normale Job Vorrang hat.

Ja, trotz Chartnotierung würde es nach wie vor nie und nimmer fürs Leben reichen, was wir verkaufen, und von daher geht der Job vor. Es ist aber auch eine ganz glückliche Situation, weil dadurch lässt sich keinerlei Druck haben, dass wir mit der Musik irgendwie erfolgreich sein müssen. Wir haben nach wie vor die absolute Freiheit, die Jobs gehören in den Rhythmus rein, deshalb können wir mit der Band machen, was wir vollen.

Das ist wahrscheinlich auch ein Vorteil, wenn man bei Cruz del Sur und Ván ist.

Ja, das ist natürlich fantastisch. Beide Labelbetreiber lassen uns die absolute Freiheit und geben uns die Qualität, die wir haben wollen. Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Labelmensch sagt: „Gar kein Problem, wir machen ein 24seitiges Booklet für eure CD.“ Bei Ván ist es genau das Gleiche, da zählt wirklich bloß die Qualität und man lässt uns alle Freiheiten. Es gibt auch keinerlei Druck, was Konzerte betrifft usw. Es ist eine perfekte Situation, die Zusammenarbeit ist einzigartig gut mit den beiden.

Ich wundere mich über den Unterschied, dass auf der Homepage die Konzerte als Epiphanias angekündigt werden, sonst - auf Shirts, Plakaten und bei den Liveveröffentlichungen - werden sie aber als Annihilations verkauft. Zwischen einer Erscheinung und einer Ausradierung ist doch ein großer Unterschied.

Naja, eine Erscheinung kann ja zu einer Ausradierung führen, hahaha. Ja, es ist inhaltlich natürlich nicht ganz kohärent, das gebe ich zu, da müssen wir nachbessern.

Hehe, sehr gut. Ich hab gedacht, dank des heiligen Ernstes, den ihr ausstrahlt, wäre Unterjochung auch ein treffendes Wort.

Ja, das wäre vielleicht ein neuer Begriff, den man einführen könnte. Die Unterjochung von Erfurt oder die Unterjochung von Hamburg… Würde passen, ja.

Außerdem finde ich es schön, dass ihr Vilseck (den „offiziellen“ Heimatort der Band) und Regensburg (wo Manuel arbeitet) stets verschont, aber Königshofen, Nürnberg und jetzt auf der neuen Platte Passau untergehen lasst.

Ja, das Komische bei uns in der Gegend - also Oberpfalz, Regensburg, Vilseck, das Eck, aus dem wir stammen - ist, dass sich keiner für uns interessiert. Wenn wir hier ein Konzert spielen würden, würden wahrscheinlich zehn oder zwanzig Leute auftauchen, und die wahrscheinlich von außerhalb. De facto sind wir bei uns im Landkreis völlig unbekannt. Die Leute wissen gar nicht, dass es uns gibt, weil kaum ein Netzwerk da ist, kaum eine Szene da ist. Größtenteils jüngere Fans, aber die spielen dann Brutal Death Metal oder Metalcore. Die haben uns überhaupt nicht auf dem Radar. Nürnberg, Würzburg, das ist eher so das Eck, aber bei uns in der Heimat sind wir eigentlich völlig unbekannt.

Ärgert dich das?

Nee, nicht wirklich. Es ist ganz einfach so. Ich fänds allgemein schön, wenn in Regensburg, gerade in Regensburg mit den ganzen jungen Leuten, wenn es da eine stärkere Metalszene geben würde, aber Regensburg hat das gewaltige Problem, dass es keine Auftrittsorte für mittelgroße und kleine Bands gibt. Man hat in Regensburg bloß die Donau-Arena, das Eishockeystadion, wo die größeren Sachen wie DIE ÄRZTE spielen. Aber der Clubbereich, wie ein 100er Club oder ein 200er Club, da ist Regensburg sehr sehr schwach aufgestellt und das größte Problem für die Liveszene - nicht nur den Metalbereich, sondern die gesamte Rockszene - ist, dass hier letztlich kaum gute Shows von Gruppen unserer Größe möglich sind und dass auch kaum internationale Bands nach Regensburg kommen, weil die Auftrittsmöglichkeiten fehlen. Und wenn es keine Auftrittsmöglichkeiten gibt, kann sich schwer eine Szene etablieren, die Shows organisiert, sich trifft usw. Das ist das größere Defizit, hier in der Oberpfalz und gerade in Regensburg.
Vom Publikum und den 20.000 Studenten oder so, die es inzwischen gibt, da ginge sicher einiges, aber es fehlen Auftrittsmöglichkeiten. Da müsste man eigentlich politisch drauf hinarbeiten, eine Initiative, die sich mit ein paar Kulturbetreibern zusammensetzt. Aber im Moment ist alles eher noch in einem Pilotstadium und es ist so, dass man in Regensburg kaum auftreten kann, weil es die Clubs und die kleinen Auftrittsgelegenheiten nicht gibt. Nicht nur im Metalbreich, sondern querbeet, Rock’n’Roll, Rockabilly, Punk, die kämpfen alle mit dem gleichen Problem und da müsste man eigentlich ansetzen.

Das Problem ist mir aus Bonn nicht ganz unbekannt, da gibt es zwar immer mal wieder kleine Konzerte, aber es gibt irgendwie keine Kohärenz im Auftreten der Veranstaltungsorte.

Ja, genau, es gibt nicht DEN Veranstaltungsort, sondern ab und zu ist hier mal in einer Kneipe ein Konzert, mal da in einem Cafe ein Konzert, wo gerade umgebaut wird, aber es gibt keine fixen Liveclubs, wo man sich drauf verlassen kann, dass es ein paar Mal im Monat coole Shows gibt, egal welches Genre.

Kommen wir mal zum Album. Ich bin, soweit ich gesehen habe, nicht der einzige, der die Zusammenstellung, den Fluss der Lieder ein bisschen besser fand als beim letzten Mal. Habt ihr euch da mehr Gedanken drüber gemacht oder ist es Zufall, dass ein paar Leute das so wahrgenommen haben?

Nein, ich nehme es absolut genauso wahr. In dem Fall ist es kein Zufall, der Fluss war uns bei „The Golden Bough“ natürlich auch schon wichtig, mit den Zwischenspielen und so, aber dieses Mal ist er uns tatsächlich, denke ich, noch besser gelungen. Uns ist es wichtig, dass man die Platten am Stück hört, dass man sich wirklich eine Stunde drauf einlässt, mit den Texten, den Bildern, den Melodien und wirklich eine Stunde mal abtaucht. Von daher finde ich es gerade für unsere behäbige, melancholische, atmosphärische Musik wahnsinnig wichtig, dass da keine Brüche drin sind, denn diese Brüche holen einen da raus aus diesem Zustand. Plötzlich ist man wieder in der Realität und der Fluss ist unterbrochen. Das Ziel war eh so ein bisschen, einen großen Song zu schaffen, den man ohne irgendwelche Brüche durchhören kann, ohne dass man rausgerissen wird aus dem Album. Da haben wir uns tatsächlich Gedanken gemacht und gegen Ende der Aufnahmen zwei Lieder rausgeschmissen, ein schnelleres und ein A-capella-Stück, die irgendwie nicht in diesen Fluss reingepasst haben. An und für sich gute Lieder, aber die haben nicht wirklich reingepasst und den Fluss gestört. Die haben wir dann rausgenommen und ich glaube, jetzt ist es vom Fluss schon wirklich sehr sehr gut, so dass man es wirklich von vorne bis hinten durchhören kann wie ein großes Lied. Das war unser großes Ziel.

Das hat hingehauen, würde ich sagen.

Ja, danke. Ich glaube auch, es ist besser als bei der letzten Platte.

Ihr habt nicht nur ellenlange Texte, sondern in den Texten auch wahnsinnig viele literarische, historische, kunsthistorische und mythologische Anspielungen. Wer denkt sich denn das alles aus und wer hält den Laden zusammen und erklärt es den anderen?

Du meinst, wer es der Band erklärt?

Ja, auch.

Haha! Die Texte stammen größtenteils von mir und Florian (Kreuzer, Bass) und ja, wir lesen halt viel, ganz einfach… Wir sind auf der Arbeit täglich von Büchern umgeben und auf der anderen Seite, unser Schlagzeuger (Mario Weiss) liest auch wahnsinnig viel und das spielt da alles mit rein. So entstehen die ganzen Referenzen. Der Punkt ist, das entsteht halt nicht unbedingt absichtlich, aber wenn einen das Zeug tagtäglich umgibt, taucht es natürlich auch in den Texten auf, die man dann schreibt. Man lässt sich natürlich von dem beeinflussen, was um einen herum passiert und was man zur Hand hat.
Die Vermittlungsarbeit leisten dann vor allem Florian und ich. Gerade für Markus, unseren Sänger, ist es natürlich immer eine Heidenarbeit, sich diese ganzen merkwürdigen Wörter einzuprägen. Er jammert immer g’scheit, aber am Ende kriegt er es doch immer hin.

Es fehlt eigentlich noch, dass am Ende vom Booklet eine Leseliste beiliegt.

Wir haben ja immer die Bands drin, die die Leute sich anhören sollen, aber eine Leseliste fänd ich cool in dem Sinne: Leute, wenn euch die Platte gefallen hat, lest die und die Bücher, von denen haben wir uns inspirieren lassen. Wenn euch das Thema weiter interessiert, könnt ihr hier weiterlesen.
Ist ne nette Idee, könnte ich mir durchaus vorstellen, vielleicht auf einer der nächsten Veröffentlichungen. Wobei man immer aufpassen muss, das Ganze nicht zu überintellektualisieren. Es ist nach wie vor Metal und die Leute sollen in erster Linie erst mal eintauchen können, ohne dass sie ein paar Bücher lesen müssen vorher.

Ja, die müssen nur die ganzen Worte nachschlagen.

Haha, ach so, ja. Ein Glossar.

Ich hab selber nichts von Paul Busson gelesen, aber wo ist denn die Verbindung zwischen ihm, dem das Lied gewidmet ist, und dem „Sol Invictus“, dem unbesiegbaren Sonnengott?

Die Geschichte, „Die Feuerbutze“ heißt sie, im Englischen „Fire On The Mountain“. Ganz faszinierende Situation letztlich. Ich hatte den Text geschrieben zu „Sol Invictus“ und ein paar Wochen später hat mich ein Freund auf das Buch, „Die Feuerbutze“ von Paul Busson, aufmerksam gemacht, ich solls doch mal lesen. Dann kommt in diesem Buch fast genau diese Situation vor, wie sie in „Sol Invictus“ geschildert wird: Ein überlebender Mithras-Kult in den Alpen, der sich in der Bergbevölkerung erhalten hat und einmal im Jahr zu Wintersonnenwende gibt es eine Riesenfeier. Eine völlig komische Situation, weil dieses Buch hat, vier Wochen nachdem ich den Text geschrieben hab, genau die gleiche Geschichte erzählt. Anscheinend haben dieser Paul Busson und ich uns unbewusst aus der gleichen Quelle inspirieren lassen oder von der gleichen Muse küssen lassen. Das Buch und der Text sind enorm nah beieinander. Es ist leider ein bisschen schwer zu bekommen, leider bloß antiquarisch, aber ein unglaublich starkes Buch. Es ist jetzt eins meiner Lieblingsbücher geworden, weil es wirklich wunderbar diese entlegene Bergwelt, die antiken römischen Kulte, die womöglich dort überlebt haben, aufgreift. Fantastisches Buch.

Alte Kulte hattet ihr ja auch schon auf dem Album davor, mit James George Fraser.

Genau, James George Fraser war der Autor von „The Golden Bough“.

Dass die modernen Religionen auf Ritualen aus der Steinzeit wurzeln, so hab ichs verstanden.

Ganz genau, letztlich führen wir diesen Gedanken weiter fort. „The White Goddess“ ist letztlich nichts anderes als die Fortsetzung von „The Golden Bough“. Robert Graves, der „The White Goddess“ geschrieben hat, hat sich 1:1 von Fraser, von „The Golden Bough“, inspirieren lassen und dann „The White Goddess“ draufgesetzt. Das Ganze nochmal ein Stück weitergesponnen, diese Figur der weißen Göttin eingeführt, die in ganz Europa vorkommt und für solche Aspekte wie Leben, Tod, Wiedergeburt steht und eben auch gleichzeitig die Muse, die durch das Bewusstsein der Sterblichkeit die Energie und die Inspiration eingibt, was Großes zu schaffen, was Überdauerndes. Die Figur haben wir quasi als Metapher aufgegriffen, um das Leitthema des Albums ein Stück weit zu verbildlichen, nämlich Niedergang, Wiederaufstieg oder Tod und Wiedergeburt.

Bei „Twelve Stars And An Azure Gown“ & „Enthroned In Clouds And Fire“ kann man da auch recht problemlos eine politische Ebene reinlesen, aber eigentlich bleiben die Lieder innerhalb der Geschichte?

Ja, selbstverständlich kann man das. Gerade vor dem Thema Niedergang und Wiederaufstieg ist natürlich das europäische Tagesgeschehen ein großes Ding. Bei uns dienen die ganzen alten Mythen, die mythologische Sprache letztlich nicht als Karneval. Wir versuchen immer, möglichst mit diesen Mythen ein Stück weit einen Bezug zur Gegenwart zu schaffen. Die mythologische Sprache ist für uns letztlich eine neue Perspektive auf die Gegenwart. Eine Möglichkeit, aktuelles Zeitgeschehen neu zu thematisieren und zu perspektivieren. Da ist natürlich gerade das Thema Europa für uns extrem wichtig, wenn es um solche Aspekte wie Niedergang und Wiederaufstieg geht.
Gerade die beiden Lieder, die du genannt hast, haben diese europäische Komponente. Bei „Twelve Stars And An Azure Gown“ steckt es im Prinzip ja schon im Titel und durch die Churchill Zitate am Anfang ist es natürlich eindeutig. Aber auch die aktuelle Komponente kommt aus dem Text gut raus. Und das zwote, „Enthroned In Clouds And Fire“, lässt sich natürlich auch politisch lesen, wobei hier stärker die apokalyptische Ebene drin steckt, diese Prophezeiung vom Mühlhiasl, dem Propheten aus dem Bayrischen Wald, der im 18. Jahrhundert gelebt hat und die Vernichtung Europas beschworen hat. Aber das lässt sich wunderbar auch in diese mythologische Sprache kleiden und vielleicht vom gegenwärtigen Aspekt lesen.
Ich glaube, das ist gerade das große Potential von mythologischer Sprache. Einerseits kann sich jeder etwas drunter vorstellen unter diesen Symbolen und Metaphern, andererseits ist der Mythos auch offen genug, so dass jeder was anderes reinlesen kann. Es ist anwendbar für unterschiedliche Kontexte, so dass der eine das womöglich als reine Endzeit-Fantasygeschichte liest und der andere liest es womöglich als politischen Kommentar. Darum geht es uns auch ein Stück weit, dass der Hörer… Jetzt hätte ich schon beinah gesagt, der Leser, haha… dass der Hörer ein Stück weit die Lieder auf seine Kontexte anwenden kann und jeder für sich herausholen kann, was er braucht. Die unterschiedliche Lesbarkeit. Es geht nicht darum, was wir meinen damit, was wir als Autor aussagen wollten, gewissermaßen, ist völlig irrelevant. Wichtig ist, dass der Text da ist und der Leser sich rausholt, was er gerade brauchen kann in seinem Leben.

Ich hätte es womöglich auch anders gelesen, wenn nicht gerade die verrückte AfD fast in den Bundestag eingezogen wäre. Dabei ist heute Europapolitik ja wichtiger denn je geworden, eigentlich.

Meiner persönlichen politischen Meinung nach wäre es eine Katastrophe gewesen, wenn die Holzpfosten es tatsächlich in den Bundestag geschafft hätten. So etwas von rückwärtsgewandt und weltfremd, das Programm. Da bin ich echt froh, dass die es nicht geschafft haben.

Um nochmal kurz auf die Steinzeitrituale zurückzukommen: Sind dann ATLANTEAN KODEX so eine Art neue Form der Rituale aus der Metalsteinzeit? Viele eurer Einflüsse stammen ja nicht aus den letzten 20 Jahren…

Hmm, ja… Diese eher rückwärtsgewandte Schiene, diese regressive Schiene. Es stimmt schon, es gibt ne Hand voll gegenwärtige Bands, die auch irgendwo einfließt, aber ein Großteil stammt schon aus den 80ern und 70ern. Gerade die 80er sind die Zeit, in der wir unsere Metalsozialisation durchgemacht haben und das lässt einen irgendwo nicht los. Und wenn ich mir anschaue, was ich tagtäglich höre… Ich hör größtenteils das 70er, 80er Zeug, mit ein paar modernen Einsprengseln dann noch. Irgendwo fließt es dann automatisch in den Sound mit rein.
Wichtiger ist mir, dass wir nicht einfach zusammenkopieren oder aufwärmen. Ich glaube, das Vergangene ist eine gute Basis, um kreativ damit umzugehen, das Ganze neu zusammenzusetzen und vor allem auch zeitgemäß zu halten. Das ist ganz zentral, dass man einerseits unsere Einflüsse raushört, also wo wir herkommen, aber auf der anderen Seite ist es mir schon auch wichtig, dass die Leute sagen, dass es heute relevant ist. Dass wir nicht einfach so eine 80er Spandex-Copy Band sind, sondern dass wir schon auch zeitgenössisch relevant sind. Es wäre mir unangenehm, wenn wir ein reiner Klon wären, der die 80er kopiert und einen auf 80er macht. Ich glaub, man hört es raus. Ich höre zur Zeit keine andere Band, die so klingt wie wir. Natürlich gibt es einen Haufen Bands, die sich von BATHORY inspirieren lassen und klingen wie BATHORY. Es gibt auch einen Haufen Bands, die sich von MANOWAR inspirieren lassen. Aber ich glaube trotzdem, dass wir doch einigermaßen eigenständig klingen. Das hat schon eine ganz zentrale Dimension.

Mein Eindruck ist, ihr setzt bei den Einflüssen andere Schwerpunkte und zum Teil auch eher emotionale Schwerpunkte statt die Musik 1:1 zu übertragen.

Ja, auf jeden Fall. Gerade diese atmosphärische Komponente ist extrem wichtig bei uns. Das ist natürlich auch was, das bei BATHORY ab „Twilight Of The Gods“ ganz stark vorhanden war. Gerade für unseren Sound ist das extrem wichtig. Ich denke, es funktioniert ganz gut mit den anderen Einflüssen, die alten MANOWAR Sachen, ein Stück weit diese melodische 70er Jahre Heavy Rock Schiene, die melodische US-Metal Schiene, Bands wie FATES WARNING oder WARLORD. Es fließt alles gut ineinander, ohne dass es tatsächlich wie eine direkte Kopie klingt. Man kann alles irgendwie raushören oder zuordnen, aber es klingt dann doch weitgehend eigenständig, weil wir natürlich diese Konzepte, diese Texte haben, aber andererseits diese starke atmosphärische Komponente, die ich ansonsten bei wenigen anderen Bands zur Zeit sehe.

In der Form würden mir wenn dann eher auch US-Metal Bands einfallen. Die neue ARGUS finde ich zum Beispiel vergleichbar vom Feeling, auch wenn die andere Musik machen.

Ja, ARGUS, fantastische Band, gerade vor allem fantastische Liveband. Ich finde, dass die aus ähnlichen Töpfen schöpfen wie wir, wobei deren Musik wesentlich direkter ist als unsere Musik. Die kommen schneller auf den Punkt und sind vor allem wesentlich gitarrenlastiger als wir. Da passiert gerade im Gitarrenbereich unsagbar mehr als bei uns. Bei denen stehen, glaub ich, eher die Riffs im Vordergrund, bei uns eher der Song und das Songwriting, der Flow. Ansonsten denke ich aber schon, dass wir aus der gleichen Richtung kommen.

Der ATLANTEAN KODEX ist dem Namen nach eigentlich ein Regelwerk. Was sind denn so drei wichtige Prinzipien des „Atlantean Kodex“?

Hmm, tja. Also ich denke, der Do-It-Yourself-Gedanke ist ganz zentral für uns, weil wir letztlich künstlerisch eigenständig dastehen. Was ich immer skeptisch sehe ist, wenn sich Bands einfach irgendeinem Produzenten überantworten und der verpasst ihnen einen Sound, der gerade angesagt ist oder so klingt wie zwanzig andere Bands auch. Das versuchen wir eben zu vermeiden, indem wir total DIY gehen und alles selbermachen. Von der Idee zum Coverartwork bis hin zum Mastering behalten wir alles in der Hand, das gibt uns dann auch die nötige Freiheit, genau das zu machen, was wir wollen. Dann können wir eben auch sagen: Leute, das was ihr da hört auf der Platte, hat uns kein Produzent gezeigt, das hat uns kein Produzent eingegeben. Das sind wir, fünf Typen, die das eingespielt haben, die das produziert haben. Das ist 100% ATLANTEAN KODEX. Das ist eines unserer Prinzipien.
Ansonsten, ja… Letztlich versuchen wir, nur Sachen zu machen, die wir auch machen wollen. Keinerlei Druck auf uns ausüben zu lassen. Verkaufszahlen oder große Festivals machen wir bloß, wenn es für uns auch einigermaßen auf Linie ist, wenn wir uns einigermaßen darin wiederfinden. Ich hab keinen Bock, auf einem Festival zu spielen, das vielleicht 5.000 oder 10.000€ zahlt, aber wir stehen irgendwie am Nachmittag auf der Bühne vor Leuten, die uns nicht kennen. Da hab ich keinen Bock drauf. Da sind mir die Stücke zu wichtig, um das so zu versauen. Der Punkt, keine Kompromisse einzugehen und die Freiheit zu behalten, ist vielleicht das zwote Prinzip dann.
Das war’s eigentlich schon. Das ist eigentlich so das Regelwerk, wobei Regelwerk ein bisschen übertrieben ist, aber das sind schon die zwei Punkte, die uns am wichtigsten sind. Einerseits die absolute Freiheit und Unabhängigkeit, auf der anderen Seite der DIY-Gedanke, der uns wiederum die Eigenständigkeit ein Stück weit bewahrt und letztlich im ganzen Metal ein Stück weit eine Alternative schafft, zu diesen ewig gleichklingenden Massenproduktionen, wie man sie heute oft hat.

Wenn ihr das so ernsthaft und auch so reflektiert betreibt, ärgerst du oder ärgert ihr euch über bestimmte Sachen im Bandumfeld oder generell im Metal dann auch vielleicht mehr als andere Leute?

Ach, ärgern? Nee, nicht wirklich. Ich ärger mich nicht, ich nehme diese Entwicklungen einfach zur Kenntnis, wie sie heute stattfinden, aber letztlich ist es eine große gesellschaftliche Entwicklung. Ich glaube, es ist wichtig, ab und zu drauf aufmerksam zu machen, dass bestimmte Dinge vielleicht keine so positiven Folgen haben für die Kreativität der Szene, für die Widerstandsfähigkeit der Szene und letztlich auch für die Innovationskraft der Szene. Ich denke, es ist wichtig, dass man das von Zeit zu Zeit ausspricht, dass man drauf aufmerksam macht, aber sich drüber ärgern…
Auf der anderen Seite, ab und zu…

Nehmen wir ein Beispiel: Du unterhältst dich mit jemandem aus der Verwandtschaft oder einem neuen Bekannten, und du sagst, du interessierst dich für Metal, und der antwortet automatisch, reflexhaft, dass du also auch in Wacken warst.

Haha, genau. Nee, wie gesagt, ärgern ist mir da echt zu stark. Ich versuche ihn dann halt drauf aufmerksam zu machen, Moment mal, Wacken hat mit der engeren Heavy Metal Szene nicht mehr viel zu tun, und versuche, ihm die Entwicklungen darzustellen. Dann kann er sich sein eigenes Bild machen, aber nee, ärgern ist mir echt zu viel gesagt.
Was mich aber tatsächlich ärgert ist, wenn irgendwelche Leute im Internet sich anmaßen, irgendwelche Behauptungen im Namen der Band aufzustellen. Was wir eigentlich wollen, was wir eigentlich machen, wo denn eigentlich unsere Einflüsse sind. Das sind eher so die Sachen, die mich auf die Palme bringen. Wenn da einfach falsche Tatsachen verbreitet werden, ist das etwas, was mich tatsächlich ärgert. Wo ich teilweise persönlich wütend werde und mich auch nicht zurückhalten kann.
Aber die größeren Entwicklungen der Szene… Man kann da nicht mehr viel dran ändern. Die Industrie hat das derartig durchökonomisiert, dass wir da nicht mehr rauskommen. Wir können die Uhr nicht zurückdrehen. Man kann bloß drauf hinweisen und Alternativen anbieten, aber wenn man den Leuten vorschreibt, was sie zu tun haben, dann erreicht man genau das Gegenteil. Wer bin ich, dass ich den Leuten vorschreibe, was sie zu hören haben? Aber ich kann drauf aufmerksam machen und meine Version von Heavy Metal darstellen, zur Diskussion stellen und Leute können sich drauf einlassen oder auch nicht. Und wenn sie sich nicht drauf einlassen, wäre ich der letzte, der sich drüber ärgert.

So wie ich gesehen habe, forschst und lehrst du ja auch über Populärmusik. Umfasst das in dem Feld auch Metal oder bezieht sich das auf Pop oder Rock und Pop?

Nee, mein Schwerpunkt liegt tatsächlich schon auf Rockmusik und Heavy Metal. Das ist tatsächlich mein Forschungsschwerpunkt in dem Feld, vor allem auch weil grad in dem Bereich hier in Deutschland viel zu wenig passiert ist. Deutschland hängt der internationalen Forschung de facto zehn bis zwanzig Jahre hinterher. In den letzten 30 Jahren hat sich einiges getan und im Moment tut sich sogar noch mehr, da wird es höchste Zeit, dass Deutschland den Anschluss findet. Es ist in den USA und gerade in England absolut akzeptiert an den Universitäten, dass man sich mit Heavy Metal beschäftigt. Deutschland ist da wesentlich konservativer und es ist erst in den letzten fünf Jahren tatsächlich zu einer kleinen Etablierung gekommen, von Heavy Metal als Forschungsgebiet.

Das liegt daran, dass Großbritannien stolz auf IRON MAIDEN ist und Deutschland sich für die SCORPIONS schämt, hehe.

Es ist dumm, sich für die SCORPIONS zu schämen. Was die SCORPIONS erreicht haben… Wenn es eine international anerkannte Metalband aus Deutschland gibt, sind das die SCORPIONS, nicht mal RAMMSTEIN kommen da ran. Wenn man ins Ausland geht, gerade nach Schweden oder in die USA, jeder liebt die SCORPIONS! Klar haben sie in den 90er Jahren schon sehr auf diese seichte Pop-Schiene gesetzt, aber das ändert ja nichts dran, dass sie Anfang der 80er, Ende der 70er ein paar Klassiker rausgehauen haben, wie es keine andere deutsche Band gemacht hat.

Das will ich ihnen auch gar nicht in Abrede stellen. Die SCORPIONS live waren eins der besten Konzerte, die ich in den letzten fünf Jahren gesehen hab.

Auch übrigens die letzte Platte, die sie gemacht haben, auf der „Lorelei“ drauf ist und auch „The Good Die Young“ ist. Wie heißt die nochmal?

„Sting In The Tail“.

Find ich zwar schon ein bisschen poppig, aber ist auch ne tolle Platte.

Sind denn unter deinen Studenten auch viele, die in Bandshirts kommen, oder viele Metaller?

Nein, im Bandshirt war noch keiner da, aber ich glaube, es hat sich inzwischen zumindest rumgesprochen, was ich so in meiner Freizeit mache. Ich habe im letzten Semester ein Seminar gemacht zu „Heavy Metal und Medialität“, gemeinsam mit einem Medienwissenschaftler hier aus dem Hause. Da sieht man, dass hier gerade in den Geisteswissenschaften doch etliche Leute auch lange Haare haben, Heavy Metal hören und mit den Bandshirts auftauchen. Das zeigt natürlich auch, dass Heavy Metal ein Stück weit in der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist. Das macht es für uns natürlich zu einem spannenden Forschungsfeld, in dem sich dann gesellschaftliche Prozesse wunderbar analysieren lassen.

Wo sich dann auch Leute einbringen, die sich dafür interessieren und sich ein bisschen auskennen.

Absolut. Für die Forschung ist die Innenperspektive wichtig. In Deutschland war jahrzehntelang das Problem, dass über Popmusik Leute gesprochen haben, die mit Popmusik nichts anfangen konnten. Irgendwelche 60jährigen Pädagogikprofessoren haben sich dann über Satanismus in der Rockmusik ausgelassen. Da haben wir gerade die Wende eingeläutet, dass jetzt tatsächlich Leute über Popmusik sprechen, die ein neutrales Verhältnis zu Popmusik haben oder teilweise sogar eine Innenansicht haben, also wirkliches Expertenwissen. Da sind wir jetzt langsam auf einem guten Weg und ich glaube, dass wir in Deutschland langsam mal international andocken.

(Bild 1 vlnr: Markus Becker, Florian Kreuzer, Michael Koch, Manuel Trummer & Mario Weiss)
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