Meine Nachbarschaft und ich - eine fruchtbare Symbiose ?

Meine Nachbarschaft und ich - eine fruchtbare Symbiose ?

Special
04.06.2003
„Last House On The Left“ nennt sich ein eher wenig bekannter amerikanischer Horrorstreifen, und obwohl die Entscheidung, ob rechts oder links liegend sehr stark vom Ausgangspunkt abhängt, könnte man die von mir zu einem Drittel beherbergte Mietwohnung und das dazugehörige Gebäude sehr gut mit obigen Filmtitel assoziieren. Denn unmittelbar neben unserem Heim beginnt die berüchtigte A-Zone, welche sich über den Rest der Strasse erstreckt und für viele heitere Stunden meines Lebens verantwortlich ist.
Nun, was bedeutet nun A-Zone, wird man sich unweigerlich fragen. Es könnte beispielsweise für „Anarchie“-Zone stehen, und damit die Lebenseinstellung der dortigen Bewohner kennzeichnen. Das ganze ein wenig realistischer und böswilliger betrachtend, wären Begriffe wie „Abrisshäuser“, „Ansteckungsgefahr“, „Analphabetismus“ oder „Alkoholismus“ auch relativ treffend. Womöglich steht das „A“ aber auch einfach nur für die Summe der Ärsche, deren Lebensaufgabe es ist, den Gehweg mit ihren Hunde-Exkrementen zuzupflastern. Ich gebe zu, ich bin mir da auch nicht mehr so ganz sicher.

Der große Vorteil, direkt neben der A-Zone zu wohnen, ist der gesellschaftliche Drang, möglichst weit weg von dort zu bleiben, welches sich vor allem in sehr günstigen Mietpreisen äußert. Einen noch viel interessanteren Vorzug hat uns der Immobilienmakler allerdings prompt verschwiegen. Dank der sehr engagierten Nachbarschaft spart man nicht nur an der Miete, sondern kann obendrein auch auf alle tontechnischen Unterhaltungsmedien komplett verzichten. In Zeiten der immens hohen Rundfunkgebühren ein nicht zu verachtender Aspekt.
Sozialität und Unterhaltung werden nämlich in der A-Zone ganz groß geschrieben, und so tummeln sich Tag und Nacht selbsternannte Laienschauspieler auf dem Pflaster des Lebens, mit dem Ziel, ihre Mitmenschen von der Langeweile zu erlösen. Dies reicht von Stücken über betrunkene, orientierungslose Einzelgänger über wild herumgestikulierende und –pöbelnde Drei-Mann-Gruppen (vorzugsweise mit einigen Billigbieren intus) bis hin zu schaustellerisch anspruchsvollen Massenszenen über feiernde Alkoholiker. Für Abwechslung ist also gesorgt in der A-Zone, und wer kennt nicht nachts halb drei dieses Bedürfnis nach ein wenig Unterhaltung, vor allem wenn zwischen dem Jetzt und der in vier Stunden beginnenden Arbeitstätigkeit nur langweiliger, erholsamer Schlaf liegt?

Aber das ist noch längst nicht alles auf dem Unterhaltungssektor. Weitaus intensiver sind die regelmäßigen musikalischen Einlagen der A-Zonler. Vor der laut Stadtplan offiziellen Vorderseite der Gebäude finden regelmäßig Straßenfeste statt, für deren Durchführung selbstverständlich auch Musik unerlässlich ist. Dank des pfiffigen Ideenreichtums und der McGuyverschen Improvisationskunst der dortigen Bewohner stellt aber auch diese Hürde kein Problem dar. Kleine und große Musikboxen auf dem hervorstechenden Fensterbrett sorgen für die punktuelle Beschallung der gesamten Straße. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass trotz der heftigen Redundanz der verfügbaren Musikanlangen stets nur ein einzelnes Exemplar in Betrieb ist. Was mag da nur für ein organisatorisches Netz dahinterstecken?
Falls die wetterlichen Bedingungen mal nicht ganz so optimal sein sollten, ist allerdings auch keine Funkstille angesagt. Denn hierfür hat man ebenfalls eine sehr elegante Lösung gefunden. In einem ihrer Wohn/Schlaf/Hundehütten/Garagen-Kombi-Gebäude haben sich engagierte Mitbürger eine Art Proben- und Konzertraum eingerichtet, der aufgrund des vorherrschenden Talentes auch dementsprechend gut frequentiert wird. Die musikalischen Vorlieben (und das wird die Leser dieses Magazins sicher am meisten interessieren) reichen dabei von Lärm über Krach bis hin zu undefinierbarem Dröhnen, manchmal hört man aber auch das eine oder andere bisschen Krawall heraus. Ich habe schon Leute belauscht, die diese Musik als Punk, Grindcore oder sogar Metal bezeichnet haben, aber da ich selbst persönlich noch nie dieses Etablissement betreten habe, möchte ich mich da jetzt fairerweise noch nicht festlegen. Schließlich kann eine 20 Meter direkt gegenüberliegende Wohnung das Gesamtbild doch merklich verfälschen. Eines ist aber auf jeden Fall klar: Ein Bass ist immer mit von der Partie. Denn diesem Instrument können selbst meterdicke Hauswände nichts anhaben, es wird jederzeit von allen umliegenden Bewohnern wahrgenommen. Selbst wenn alle anderen Musiker längst nicht mehr zu hören sind, auf den Bassisten ist Verlass, er versüßt auch dem Letzten seine schlaflosen Nächte.

Warum erzähle ich das jetzt alles? Nun, das ganze hat zwei Gründe. Zum einen werde ich innerhalb dieses Monates das Gebäude am Rande der A-Zone verlassen und ein weit weniger aufregendes Heim aufsuchen, so dass womöglich die Erinnerungen an diese ereignisreiche Zeit unwiederbringlich verblassen werden, zum anderen wollte ich einmal den Unterschied zwischen Underground und Untergrund demonstrieren. Während im bundesdeutschen Underground bekanntermaßen viele hervorragende ungeschliffene Diamanten zu entdecken sind, gibt es auch eine (womöglich größere) Szene, hoffnungsloser, unengagierter Freizeitmusiker, die es wohl nie zu größerer Bekanntheit bringen werden (und das möglicherweise auch gar nicht wollen). Denn wenn man es am eigenen Leib erfahren muss, wie eine Band trotz intensivstem Trainings nach zweieinhalb Jahren noch immer nichts auf die Reihe bringt, kann man doch nur noch Mitleid empfinden.

In diesem Sinne: Leb wohl, alte Heimat. Mögest du dich im Vollrausch nie selbst abfackeln oder dem rechtlich abgesicherten, staatsbeauftragten Abrissunternehmen zum Opfer fallen. Und mögen deine Musikanten nie eine CD aufnehmen. Schnief.
-