Visionäre ohne Allüren


Interview mit Disillusion
Progressive Metal aus Deutschland - Leipzig
Spätestens seit der Veröffentlichung von "Three Neuron Kings" und dem Legacy Bandkontest sollte auch dem letzten Hinterwäldler der sich Metaller schimpft der Name Disillusion ein Begriff sein. Ich habe die Leipziger auf dem "Fun and Crust" Festival gesehen und wurde regelrecht weggeblasen. Diese eigenständige, technische aber nicht emotionslose Musik hatte etwas magisches. Ich möchte jetzt nicht in das übliche, langweilige Interviewschema verfallen und mach mich gleich mal ans Eingemachte.

1) Eure Musik ist extrem eigenständig. Auch die von euch gewählte Schnittmenge von ANATHEMA, OPETH, SOILWORK und EMPEROR lässt eigentlich nicht zureichend darauf schließen wie ihr denn nun klingt. Wie ist es zu diesem Stil gekommen ? Kannst du unseren Lesern einen kurzen Abriss deiner musikalischen Vorlieben geben (früher wie heute) ?


Zunächst ein Dankeschön für das Lob, eigenständig zu sein! Es ist uns natürlich bewusst, dass die genannte Schnittmenge für einige Verwirrung sorgt – es handelt sich schließlich um Kapellen, die, zumindest teilweise, nichts miteinander zu tun haben. Und trotzdem fühlen wir uns wohl mit dieser Beschreibung, denn die Musik von Disillusion scheint sich tatsächlich irgendwo zwischen diesen Bands anzusiedeln.

Nicht zuletzt handelt es sich um Bands, die wir außerordentlich mögen, und die einen großen Einfluss über die Jahre ausgeübt haben, wodurch wir natürlich einige Elemente übernommen haben. Eine Bezeichnung für die Musik suchten wir aber erst, als es notwendig wurde für Infos, etc. – es gab nie einen Masterplan; wir hatten lediglich versucht, unsere breitgefächerten musikalischen Vorlieben in unsere Notenwelt zu packen, und uns als Band so gut wie möglich auszudrücken. Herausgekommen ist wohl eine gewisse Eigenständigkeit, zumindest der Versuch, emotionale und dennoch anspruchsvolle Musik zu kreieren. Es ist sicher ein schwerer Weg, sein eigenes Ding durchzuziehen, die Belohnung ist dann aber um so reichhaltiger...

Wie gesagt, die musikalischen Vorlieben variieren extrem und sind nur schwer aufzuzählen. Viele Kapellen (und Komponisten) werden nie genannt und sind dennoch wichtig gewesen und begleiten uns immer noch, was uns oft genug Kopfzerbrechen bereitet. Das reicht halt von Alice In Chains bis Emperor, von Dave Matthews bis Nile.


2) Auf euer Website ist eine sehr interessante Interpretation zu eurem Bandnamen. Der Name "Disillusion" beschreibt demnach die Katharsis, die ihr als Individuen durchgemacht habt/durchmacht als eurem Leben (wahrscheinlich mit steigendem Alter) immer mehr die Illusion eines von euch erträumten Weltbild genommen wurde. An welchen Beispielen des Lebens kann man diese "Disillusion" festmachen ?



DIESE FRAGE BEANTWORTE ICH NOCH!!!!

3) Euer Newsletter hat mir geflüstert, daß ihr für das anstehende Debutalbum nun im Stall von Voice of LIFE steht. Könntest du dir eine Zukunft von Disillusion bei einem großen, "kommerzielleren" Label vorstellen ? Als eine Band unter vielen müßtet ihr viele Kompromisse eingehen, allerdings hättet ihr Vorteile bei der Promotion. Wer hat den schon so Interesse gemeldet ?


Wir hatten lang überlegt, wie wir nach der Veröffentlichung unseres Debuts “Three Neuron Kings” weiterverfahren sollen. Es gab tatsächlich ernsthaftes Interesse einiger „größerer“ Labels. Schließlich haben wir uns dennoch für das „kleine“ Voice Of Life entschieden, da wir uns hier sehr wohl fühlen und Disillusion genau die Beachtung erfährt, die wir gern hätten. So arbeiten Label und wir nun gemeinsam am schrittweisen Aufbau der Band – das benötigt Zeit und vor allem eine ganze Menge Vertrauen. Bislang werden beide Punkten zur vollsten Zufriedenheit erfüllt: es wird uns Zeit gegeben, uns zu entwickeln – ein ganz wichtiger Punkt, da wir keinen Schnellschuss machen wollen, sondern zielgerichtet an der Musik arbeiten möchten. Es ist eben eine wahnsinnig sensible Geschichte, die eigene Musik, sein Herzblut, in die Hände eines Labels zu geben. Da muss viel stimmen... Wie genau die Label-Zukunft Disillusions ausschaut, weiß natürlich niemand – es gibt Gedanken dazu, aber wie gesagt, wir fühlen uns bei VOL sehr wohl und werden uns zunächst ganz und gar dem Album widmen. Dann wird man sehen ...

4) Ist es wahr das ihr versucht ausschließlich von der Musik zu leben ?


Jein. Der Versuch ist sicher da, aber es wäre natürlich extrem ungünstig, sich auf diesen Wunsch zu versteifen, zumal ich mir nicht sicher bin, ob dann die Mietrechnung nicht einen direkten Einfluss auf die Musik hätte ... Wir versuchen am Ende wie jeder andere unsere Brötchen „ganz normal“ zu verdienen und dennoch viel Zeit für Disillusion aufbringen zu können. Die Prioritäten wiederum sind klar – es wird schon mal ein Job abgelehnt, um Konzerte fahren zu können...

5) Eure Texte zeugen von Leidenschaft die der eurer Musik sehr ähnlich ist. Wie würdest du das Verhältnis Texte/Musik beschreiben. Hast du ein paar Interpretationen parat oder überlasst ihr sowas dem Fan alleine?


Nun, Text und Musik sind sehr eng verwoben – wir überlassen da wenig dem Zufall – Wort und Musik stehen immer in Beziehung und bedingen sich wechselseitig. Die Musik entsteht zwar meist zuerst, im gleichen Moment entstehen jedoch die Ideen, Ausdrucksformen und erste Fragmente der Texte, die dann ausschließlich mit genau diesem Song funktionieren. Ich bin sehr froh, dass unsere Texte so viel Beachtung finden. Es ist ein wahnsinnig tolles Gefühl, mit Leuten über die Texte zu diskutieren, zu erfahren, wie sie das Text/Musik Konzept aufgenommen haben und verstehen; schließlich steckt genau so viel Arbeit in den Texten wie in der Musik.

Einige Texte sind äußerst privat, und ich weigere mich (hoffend, das ist verständlich) diese Texte auseinander zu nehmen. Andere wie „In Vengeful Embrace“, „The Porter“, oder eben der Titel-Track „Three Neuron Kings“ erzählen Geschichten, in die sich ein jeder hineinversetzen kann, wenn er/sie denn dazu bereit ist. Es handelt ich dann um den Versuch, eine gewisse Situation oder einen Umstand zu beleuchten, teils von innen, aus der Gefühlswelt eines Helden, sei es von außen, wenn der Handlungsort weit weg von uns platziert wird. So zum Beispiel bei THE PORTER, Textgrundlage unserer neuen Single THE PORTER, ie gerade auf Voice Of Life erschienen ist...

"THE PORTER"


Es geschieht zu oft: die größte Geschichte unseres Lebens verkommt binnen weniger Jahre zu einem vernebelten Dickicht aus Halbwahrheiten. Ereignisse werden verdreht, Gesichter werden vergessen, es wird interpretiert und umgeschrieben – und über die Jahre ermöglichen es uns nur noch wenige Eckpfeiler überhaupt durch uns Selbst und unsere Geschichte zu navigieren:

Die Rede ist von Erinnerungen.

Manche erhalten in der Zeit eine andere Färbung, ein anderes Gesicht – andere erscheinen so bedeutsam und waren doch nur Randereignisse. Beginnt man auch nur, alle Ereignisse eines Lebens zu einem Ganzen zusammenzusetzen, endet der Versuch allzu schnell in der Erkenntnis, dass alles verwoben ist. Ein Erlebnis bedingt das nächste, usw. usf. - eine endlose Kette, die bis ins Jetzt reicht, und sogar darüber hinaus. Die Frage, mit der sich THE PORTER auseinandersetzt, ist die Bedeutung der Erinnerungen für uns selbst.



Die Geschichte spielt in einer Art Gegenwelt, weitestgehend identisch mit der hiesigen Welt; nur, einen großen Unterschied gibt es: Über Jahrhunderte ist gewachsen, dass die tatsächlichen und unverfälschten Erinnerungen eines jeden Bewohners, in einer zentral gesteuerten HALLE DER ERINNERUNGEN aufbewahrt und archiviert werden. Die Halle besteht aus mehreren, sehr hohen Sälen, deren kunstvolle, fast schon prunkhafte, Gestaltung erahnen lässt, wie wichtig die Institution einmal den Bewohner dieser Welt war und vielleicht noch ist. Wie in jeder hiesigen Bibliothek ist es völlig normal, die Halle Der Erinnerungen aufzusuchen und sich seine Erinnerungen „auszuleihen“ – ein kaum angezweifeltes Ritual dort. Ein jeder hat somit die Möglichkeit, seine Vergangenheit unvernebelt neu zu erleben, sich auf einen Reise durch die Zeit zu begeben. Ungeahnte Möglichkeiten entstehen. Natürlich wird akribisch darauf geachtet, dass jeder nur seine Erinnerungen bekommt. Manchmal kommt es auch dazu, dass zwei die selbe Erinnerung teilen, sei es ein Paar, was sich an einen bestimmten Moment im gemeinsamem Leben erinnern möchte – das sei dann genehmigt.

Die Halle Der Erinnerungen ist eine staatlich organisierte Institution, und die muss auch verwaltet werden. Selbiges obliegt dem Archivar – ein älterer Herr, um die 60 und schon viel zu lang dabei. Seine vorrangige Aufgabe besteht darin, Ordnung zu halten, und die Erinnerungen an jedermann auszugeben, der sich danach sehnt. Das tut er, tagein, tagaus, über Jahrzehnte hinweg. Vor einiger Zeit jedoch begann er seine Rolle überzuberwerten und avancierte in seinen Vorstellungen vom Archivar, vom Verwaltungsangestellten, hin zu einem PORTIER – Er, der den Schlüssel zu den Erinnerungen an sich trägt; Er, der Weisheit bringen kann, wenn da nur einer wäre, der danach sucht. Doch da ist kaum jemand; viel zu oft kommen Besucher, die nichts als Ablenkung in der Halle Der Erinnerungen suchen – einen frischen Gedanken an eine Blume am Wegesrand im Sommer von vor 18 Jahren. Unser Portier ist verzweifelt darüber, wie unbewusst sich die Leute darüber sind, was eigentlich alles auf sie wartet; wie wenig sie sich mit sich selbst beschäftigen; wie wenig sie bereit sind, hinter sich selbst zu schauen. Er ist der felsenfesten Überzeugung, dass die Erinnerungen eines Menschen seine Person begründen, dass ein Jeder die Summe seiner Erlebnisse ist – Erlebnisse, über welche man sich ständig bewusst sein sollte, um nicht den Fokus zu verlieren, welcher wiederum auf dem Vergangenen liegen sollte, letztendlich ist die Zukunft für unseren Portier die logische Entwicklung aus den Ereignissen der Vergangenheit. Schließlich nahm er vor Jahren aufgrund dieses Gedankens und aus vollem Herzen die Tätigkeit als Archivar an.

Teil 1 der sicherlich vorzusetzenden THE PORTER Geschichte trägt den Untertitel

A LAMENT und handelt von eben jener Ereiferung, der Wut, die sich über die Jahre aufgebaut hat, und auch schon ein wenig davon, wie viel der Portier selbst mit den Jahren an Freisicht verloren hat.

6) Ihr seid ja "Ossis" wenn ich das mal so sagen darf. Warst du schon vor der Wende Metalhead und wenn ja wie kann man sich das vorstellen ? War der Metal damals noch rebellischer ?



Da bin ich nun definitiv der falsche ... sorry. Damals hatte ich einfach noch nix mit Metal zu tun – da hab ich noch Techno auf einem Amiga gemacht *g ...

7) Ich habe immer das ungute Gefühl das die deutsche Metalszene sehr unterschätzt wird. Besonders im Bereich der extremen Musik. Nach Kreator kam eigentlich nichts wirklich großes mehr (im Bezug auf den Erfolg) Wie siehst du die deutsche Metalszene bzw. das Publikum?


Woran es genau liegt, kann ich natürlich auch nicht sagen – sei es, dass gemeinhin zu wenig riskiert wird, sei es, dass es die deutsche Metalszene, genau wie die der meisten anderen europäischen Länder, es schwer hat, sich zu emanzipieren von Skandinavien oder Amerika. Vielleicht ist es am Ende gar die zentraleuropäische Kulturmüdigkeit. Gerade da sehe ich schon massive Unterschiede zu anderen Ländern.

Im gleichen Moment wachsen jedoch wahnsinnig viele gute Kapellen in Deutschland heran - man kann nur hoffen, viele erhalten eine Chance und schaffen es über die Jahre, an Einfluss zu gewinnen. Es ist natürlich sehr schwierig gerade für Newcomer Kapellen, keinen wirklichen Orientierungspunkt in der Umgebung zu haben. So albern, wie es klingen mag, aber manchmal glaube ich, es fehlt irgendwie der „große Bruder“, der eine helfende Hand anbietet.


8) Seid ihr politisch interessierte Menschen oder stellt der Metal für euch auch eine Welt dar in der solch irdischen Sachen nichts verloren haben ? Dein Statement zu den NSBM Auswüchsen der letzen Jahre?


...politisch interessierte Menschen auf jeden Fall, auch wenn sich das Interesse nicht unbedingt in der Kapelle in Form von Texten niederschlägt. Es gibt des öfteren Politikdiskussionen, die dann meist viel zu weit ausufern...

Das NS Black Metal Thema ist natürlich ein ziemlich komplexes und heiß-diskutiertes, nicht nur im Disillusion Lager. Ich werde mich hüten, hier zu schnelle Aussagen zu treffen. Vielleicht so viel: es ist zu einfach, diese Bewegung als eine von unterbelichteten Halbstarken abzutun - dafür ist sie viel zu brisant und zu stark verwoben mit den kulturellen, sozialen und historischen Hintergründen eines Landes oder eines Einzelnen. Manchmal glaube ich, die „alle-haben-sich-lieb“ Wabberblase der letzten 20 Jahre droht langsam zu zerbersten und viele verfallen verstärkt dem Gelabere und den oftmals gegenstandslosen Parolen solcher Bewegungen. Genau durch diese Gegenstandslosigkeit ist man aber wieder geneigt, das Ganze nicht allzu ernst zu nehmen und läuft Gefahr, die Auswirkungen zu unterschätzen. Ich selbst bevorzuge das (zufällige) Einzelgespräch, als gleichwohl Parolen mit Parolen zu beantworten ...


9) Ein paar Begriffe und bitte ein Statement von dir:


- Wacken

groß und viel zu teuer (hauptsächlich das Bier – Frechheit!) – Wacken hat schon fast nichts mehr mit Metal und dem Einzelnen Metaller dahinter zu tun, sondern ähnelt eher einem Volksfest, nur noch das Karussell fehlt. Der größte Teil der Bandauswahl bestätigt leider dieses Bild. Manchmal kommt man sich vor wie bei der Hitparade, nur eben im Metal ... Nichtsdestotrotz war es auch dieses Jahr wieder eine schöne Zeit, nicht zuletzt wegen Green Carnation und DyingFetus (Ausnahmen bestätigen halt die Regel...) !!!


- Chuck Schuldinger

einer der größten Metal-Köpfe und extrem schade, ihn so früh gehen zu sehen. Ein Schock nach der Vielzahl von unterschiedlichen Prognosen und Meldungen. Gleichzeitig eine Demonstration der Mißstände in den „geheiligten“ USA...


- Fun and Crust


gewagtes Konzept vom HAPPY METAL – um ehrlich zu sein, mir persönlich auch viel zu durcheinander - wir sind auf jeden Fall sehr dankbar, dabei gewesen zu sein. Leider viel zu viel Regen und zu kleine Bierbecher *g

- Geld

ja, das Geld, der Fluch des Lebens ... je weniger ich davon habe, um so mehr sehe ich darin nur bunt bedruckte Scheine, die, wenn man sie hat, auch nichts ändern. Würde gern mal jemanden treffen, der null Ahnung von Geld und Wirtshaftsystemen hat und versuchen, ihm alles zu erklären – mal sehen was er sagt...


- Liebe

viel zu schön, um sie in Worte zu fassen. Am ergreifendsten, wenn sie vom anderen verschmäht wird. Ist wohl mein Leben. Alles andere ist mindestens sekundär.


- Erfolg

nicht so wichtig wie Respekt.
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